Das Brüderchen vnd das Schwesterchen
( Brüder Grimm – Das Manuskript von “Hänsel und Gretel”, - Jahre 1810, “Hänsel u. Gretchen” )
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Es war einmal ein armer Holzhacker, der wohnte vor einem großen Wald.
Es ging ihm gar jämmerlich, daß er kaum seine Frau, und seine zwei Kinder ernähren konnte.
Einsmals hatte er auch kein Brod mehr, und war in großer Angst, da sprach seine Frau Abends im Bett zu ihm:
- “Nimm die beiden Kinder morgen früh, und führ sie in den großen Wald, gib ihnen das noch übrige Brod, und mach´ ihnen ein groß Feuer an, und darnach geh weg und laß sie allein.
Der Mann wollte lang nicht, aber die Frau ließ ihm keine Ruh, bis er endlich einwilligte.
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Aber die Kinder hatten alles gehört, was die Mutter gesagt hatte.
Das Schwesterchen fing an gar sehr zu weinen, das Brüderchen sagte ihm es solle still seyn, und tröstete es.
Dann stand er leis auf, und ging hinaus vor die Thüre, da wars Mondenschein und die weißen Kieselsteine glänzten vor dem Haus.
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Der Knabe las sie sorgfältig auf, und füllte sein Rocktäschlein damit, soviel er nur hineinbringen konnte.
Darauf ging er wieder zu seinem Schwesterchen ins Bett, und schlief ein.
Des Morgens früh, ehe die Sonne aufgegangen war, kam der Vater und die Mutter und weckten die Kinder auf, die mit in den großen Wald sollten.
Sie gaben jedem ein Stücklein Brod, die nahm das Schwesterchen unter das Schürzchen, denn das Brüderchen hatte die Tasche voll von den Kieselsteinen.
Darauf machten sie sich fort auf den Weg zu dem großen Wald.
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Wie sie nun so gingen, da stand das Brüderchen oft still, und guckte nach ihrem Haüschen zurück.
Der Vater sagte:
- “Was bleibst du immer stehn und guckst zurück ?”
- “Ach”, antwortete das Brüderchen, ich seh nach meinem weißen Kätzchen, das sitzt auf dem Dach und will mir Ade sagen.”
Heimlich ließ es aber immer einen von den weißen Kieselsteinchen fallen.
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Die Mutter sprach:
- “Geh nur fort, es ist dein Kätzchen nicht, es ist das Morgenroth, das auf den Schornstein scheint.
Aber der Knabe blickte immer noch zurück, und immer ließ er wieder ein Steinchen fallen.
So gingen sie lang und kamen endlich mitten in den großen Wald.
Da machte der Vater ein großes Feuer an, und die Mutter sagt:
- “Schlaft dieweil ihr Kinder, wir wollen in den Wald gehn und Holz suchen. Wartet bis wir wieder kommen.”
Die Kinder setzten sich an das Feuer, und jedes aß sein Stücklein Brot.
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Sie warten lang bis es Nacht ward, aber die Eltern kamen nicht wieder.
Da fing das Schwesterchen an gar sehr zu weinen, das Brüderchen tröstete es aber und nahm es an die Hand.
Da schien der Mond, und die weißen Kieselsteinchen glänzten, und zeigten ihnen den Weg.
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Und das Brüderchen führte das Schwesterchen die ganze Nacht durch, und sie kamen des Morgens wieder vor das Haus.
Der Vater war gar froh, denn er hatte es nicht gern gethan; aber die Mutter war bös.
Bald darnach hatten sie wieder kein Brod, und das Brüderchen hörte wieder Abends im Bett, wie die Mutter zu dem Vater sagte, er solle die Kinder hinaus in den großen Wald bringen.
Da fing das Schwesterchen wieder an heftig zu weinen, und das Brüderchen stand wieder auf, und wollte Steinchen suchen.
Wie es aber an die Thür kam, war sie verschloßen von der Mutter,
da fing das Brüderchen an traurig zu werden, und konnte das Schwesterchen nicht trösten.
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Vor Tag standen sie wieder auf, jedes erhielt wieder ein Stücklein Brot.
Wie sie auf dem Weg waren, guckt das Brüderchen oft zurück.
Der Vater sagte:
- “Mein Kind, was bleibst du immer stehn, und guckst zurück nach dem Haüschen ?”
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- “Ach !” Antwortete das Brüderchen, “…ich seh nach meinem Taübchen, das sitzt auf dem Dach, und will mir Ade sagen.”
Heimlich aber zerbrößelte es sein Stückchen Brot, und ließ immer ein Krümchen fallen.
Die Mutter sprach:
- “Geh nur fort, es ist dein Taübchen nicht, es ist das Morgenroth, das auf den Schornstein scheint.”
Aber das Brüderchen blickte immer noch zurück, und immer ließ es ein Krümchen fallen.
Als sie mitten in den großen Wald gekommen, machte der Vater wieder ein großes Feuer an, die Mutter sprach wieder dieselbigen Worte, und beide gingen fort.
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Das Schwesterchen gab dem Brüderchen die Hälfte von seinem Stücklein Brot, denn das Brüderchen hatte seins auf den Weg geworfen.
Und sie warteten bis zum Abend, da wollte das Brüderchen das Schwesterchen beim Mondschein wieder zurückführen.
Aber die Vöglein hatten die Brodkrümchen aufgefreßen und sie konnten den Weg nicht finden.
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Sie gingen immer fort, und verirrten sich in dem großen Wald.
Am dritten Tag kamen sie an ein Haüschen, das war aus Brod gemacht, das Dach war mit Kuchen gedeckt und die Fenster von Zucker.
Die Kinder waren gar froh, wie sie das sachen sahen und das Brüderchen aß von dem Dach und das Schwesterchen, von dem Fenster.
Wie sie so standen und sichs gut schmecken ließen, da rief eine feine Stimme heraus:
Knuper, knuper, Kneischen !
Wer knupert an meim Haüschen ?
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Die Kinder erschracken sehr; bald darauf kam eine kleine alte Frau heraus, die nahm die Kinder freundlich bei der Hand, führte sie in das Haus, und gab ihnen gutes eßen, und legte sie in ein
schönes Bett.
Am andern Morgen aber steckte sie das Brüderchen in ein kleines Ställchen, das sollte ein Schweinchen seyn, und das Schwesterchen mußte ihm Waßer bringen, und gutes Essen.
Alle Tag kam sie herzu da mußte das Brüderchen den Finger herausstrecken, und sie fühlte ob es bald fett wäre, es streckte aber immer dafür ein Knöchelchen heraus, da meinte sie es wäre noch nicht fett u. es dauerte länger.
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Dem Schwesterchen gab sie nichts zu eßen, als Krebsschalen, weil es nicht fett werden sollte.
Nach vier Wochen, sagte sie am Abend zu dem Schwesterchen,
- “Geh hin und hole Waßer, und mache es morgen früh heis, wir wollen dein Brüderchen schlachten und sieden, ich will dieweil den Teich zurecht machen, daß wir auch backen können dazu.”
Am andern Morgen, wie das Wasser heis war, rief sie das Schwesterchen vor den Backofen, und sprach zu ihm:
- “Setz dich auf das Brett, ich will dich in den Ofen schieben, sieh, ob das Brot bald fertig ist.”; sie wollte aber das Schwesterchen darin laßen und braten.
Das merkt das Schwesterchen und sprach zu ihr:
- “Ich versteh das nicht, setz dich zuerst darauf, ich will dich hineinschieben.”
Die Alte setzte sich darauf, und das Schwesterchen schob sie hinein, machte die Thüre zu, und die Hexe verbrannte.
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Darauf ging es zum Brüderchen u. macht ihm sein Ställchen auf.
Sie fanden das ganze Haüschen voll Edelgestein, damit füllten sie alle Taschen und brachten sie ihrem Vater, der ward ein reicher Mann;
die Mutter aber war gestorben.
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ENDE
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Inhalt nach der Fassung von 1812 (Hänsel und Gretel)
Hänsel und Gretel sind die Kinder eines armen Holzfällers, der mit seiner Frau im Wald lebt.
Als die Not zu groß wird, überredet sie ihren Mann, die beiden Kinder im Wald auszusetzen. – Der Holzfäller führt die beiden am nächsten Tag in den Wald.
Doch Hänsel hat die Eltern belauscht, und legt eine Spur aus kleinen weißen Steinen, anhand derer die Kinder zurückfinden.
So kommt es, dass der Plan der Mutter scheitert. – Doch der zweite Versuch gelingt: Dieses Mal haben Hänsel und Gretel nur eine Scheibe Brot dabei, die Hänsel zerbröckelt, um eine Spur zu legen. Diese wird jedoch von Vögeln gefressen. Dadurch finden die Kinder nicht mehr nach Hause und verirren sich.
Am dritten Tag, finden die beiden ein Häuschen, das ganz aus Brot, Kuchen und Zucker hergestellt ist. Zunächst brechen sie Teile des Hauses ab, um ihren Hunger zu stillen. In diesem Haus lebt jedoch eine Hexe, die eine Menschenfresserin ist.
Die Hexe lässt sich nicht täuschen, fängt die beiden, macht Gretel zur Dienstmagd und mästet Hänsel in einem Käfig, um ihn später aufzuessen.
Hänsel wendet jedoch eine List an: Um zu überprüfen, ob der Junge schon dick genug ist, befühlt die halbblinde Hexe jeden Tag seinen Finger. – Hänsel streckt ihr nun jedes Mal einen kleinen Knochen entgegen, um sie zu täuschen.
Als sie erkennt, dass der Junge anscheinend nicht fett wird, verliert sie die Geduld und will ihn sofort braten.
Die Hexe befiehlt Gretel, in den Ofen zu sehen, ob dieser schon heiß sei. Gretel aber behauptet, zu klein dafür zu sein, sodass die Hexe selbst nachsehen muss. Als sie den Ofen öffnet, schiebt Gretel die böse Hexe hinein.
Die Kinder nehmen Schätze aus dem Hexenhaus mit und finden den Weg zurück zum Vater. Nun leben sie glücklich und leiden keinen Hunger mehr.
Die Mutter ist inzwischen gestorben.